Mit Erinnerungen ist es wie mit einer knackigen Sommerbräune – mit der Zeit verblasst beides. Die folgende Beschreibung ist etwas verblasst und nicht sehr detailliert. Vor ca. 23 Jahren fand in der Primarschule Biglen eine Projektwoche zum Thema „Fremde Kulturen, Länder dieser Welt“ oder so ähnlich statt. Unter anderem durfte ich mir dort als kleiner Knirps ein blaues Hemd mit rot, weiss bestickter Bordüre überstreifen. Die traditionelle Kleidung der Menschen aus Lappland. Stolz wie Bolle hatte ich jedoch keine Ahnung, wo genau sich dieses Lappland befindet. Mein Horizont beschränkte sich damals auf ein klein wenig über den Tellerrand und die Badi. Nun etliche Jährchen und
einige graue Häärchen später, stehen wir also in Inari vor dem Verwaltungs- und Kulturzentrum Lapplands. Wir fragen uns ob die Menschen traditionelle, läppische Musik hören und ob die Bewohner dieser Region Lappis genannt werden. Um etwas Licht ins Dunkel zu bringen (zugegeben dieser Satz wäre im Winter passender), besuchen wir in Inari das Sami Museum. Wir lernen, dass Lappland keine politischen Grenzen kennt und zwischen den vier Ländern Russland, Finnland, Norwegen und Schweden aufgeteilt ist. Ein Gebiet, welches vom einzigen Urvolk Europas bewohnt wird. Die Samen, so die korrekte Bezeichung dieser Bevölkerungsgruppe, leben im Einklang mit der Natur und von der Rentierzucht. Die beeindruckende Kultur erinnert uns an das Leben in der Mongolei.
Nach der erholsamen Ruhepause radeln wir weiter in Richtung Norwegen. Die Vegetation verändert sich nach und nach. Pinien und Birken werden kleiner und verschwinden allmählich ganz. Wir befinden uns in der Tundra – der Kältesteppe. In dieser Vegetationszone wachsen keine Bäume mehr. Renntiere begegnen uns dennoch täglich. Der Wind bläst uns nun unaufhaltsam entgegen. Obwohl wir das Ziel zum Greifen nah ist, die letzte Etappe hats in sich. Uns teilt ein ehemaliger Arbeitskollege am Vorabend aufmunternd mit: „Jetzt noch der Nordkapptunnel und einige giftige Steigungen, dann ists geschafft!“. Bei ebendiesen „giftigen Steigungen“ werden wir von wildfremden Menschen angefeuert, als hätten wir etwas zu gewinnen. Hupende Autos kreuzen uns, Hände winken uns entgegen. Daumen schnellen nach oben, gefolgt von einem breiten Lachen hinter der Windschutzscheibe. Entgegenkommende Radfahrer motivieren uns mit den Worten: „Es ist nicht mehr weit, bald geschafft“. Diese Unterstützung freut uns.
Und dann stehen wir tatsächlich am Nordkapp. Drei Tage früher als eigentlich vorgesehen, erreichen wir den nördlichsten Punkt Europas, welcher über eine Strasse erreichbar ist, bei strahlendem Sonnenschein. Ob mit Camper, Bus, Lastwagen, Rad oder zu Fuss, Menschen aus allen Herren- und Frauenländern finden den Weg hierher. Bei der Meridiankugel und später auch in den Nordkapphallen werden wir von mehreren Besuchern angesprochen: “Seid ihr den ganzen Weg hochgeradelt?“ Als Radfahrer bleibt man hier nicht anonym. Gerne geben wir Auskunft über unsere Route und die Anzahl gefahrener Kilometer, über unser Befinden und die vergangenen Schäden an den Rädern. Unverhofft heimsen wir uns Respekt und haufenweise Gratulationen ein, was sich irgendwie seltsam anfühlt. Denn, wir haben die letzten zwei Monate lediglich das gemacht, was wir gerne tun.
Obwohl uns die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben steht, finden wir den Schlaf an diesem Abend nicht leicht. Das Wetter tut sein Übriges. Regen und böiger Wind lösen den Sonnenschein ab und erdrücken schier unsere Behausung. In die warmen Schlafsäcke eingekuschelt, hoffen wir, dass nicht plötzlich die onehin schon lädierten Zeltstangen dem Druck nachgeben.
Zurück in Honningsvåg geniessen wir die letzten Tage. Wir nutzen die Zeit um unsere Räder in grosse Kartonboxen zu verpacken. Dass diese die Schweiz nicht erreichen werden, wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das Kapitel „ans Nordkapp mit dem Fahrrad“ ist nun zu Ende.
Da ist diese Idee, die nach und nach Gestalt annimmt. Bilder, Begegnungen und Emotionen lassen sie schliesslich zu einem unvergesslichen Erlebnis werden. Wir kehren zurück mit haufenweise Erinnerungen, die mit der Zeit zwar etwas verblassen, von denen wir aber noch lange werden zehren können.